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Fachtagung in Bielefeld: Deutlich mehr Unterstützung für pflegende Angehörige gefordert

Die Zahl der pflegebedürftigen Menschen steigt, und weil jeder vierte Pflegebedürftige zu Hause versorgt wird, sind besonders die pflegenden Angehörigen stark gefordert. Ein Engagement, das für Familienmitglieder und nahestehende Personen oft mit viel Anstrengung und Entbehrung verbunden ist, erst recht, wenn sie noch mitten im Berufsleben stehen. Welche Hürden diese Menschen tagtäglich zu meistern haben, wie sie im Alltag besser durch Politik und Wirtschaft unterstützt werden können und wie sich Beruf und Pflege besser vereinbaren lassen, waren Themen des Dialog-Forums „Pflegende Angehörige – eine tragende Säule der Pflege in Deutschland“, zu dem das Zentrum für Innovation in der Gesundheitswirtschaft OWL (ZIG) und die DAK-Gesundheit am 21. März 2023 in Bielefeld eingeladen hatten.

 

Begrüßt wurden die rund 120 Gäste im Großen Saal der Ravensberger Spinnerei durch ZIG-Geschäftsführer Uwe Borchers und Klaus Overdiek, Leiter der Landesvertretung NRW der DAK-Gesundheit. Der brachte in seinem Eingangsstatement das Ziel der Veranstaltung auf den Punkt: „Wir wollen den rund 2,5 Millionen Menschen, die sich zuhause oft aufopferungsvoll um ihre Angehörigen kümmern, eine Stimme geben. Ohne sie wäre die Pflege in Deutschland in der jetzigen Form nicht möglich.“ Insbesondere jene, die darüber hinaus noch einen Beruf ausübten - allein in Nordrhein-Westfalen immerhin eine halbe Million Menschen – seien in der Regel aufs Äußerste gefordert. Eine herausragende Leistung, die allerdings weder in der politischen noch der öffentlichen Diskussion ausreichend wahrgenommen würde. Beispielsweise habe sich trotz des im Koalitionsvertrag festgeschriebenen Ziels, die häusliche Pflege zu stärken, auf diesem Feld bisher kaum etwas getan. Angesichts der immer offensichtlicher werdenden Probleme in der Pflege ist laut Klaus Overdiek ein rascher Kurswechsel zwingend notwendig: „Das Thema Pflege geht uns alle an und ist daher eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die wir nur gemeinsam lösen können. Dies wird aber nur gelingen, wenn auch die Lasten gleichmäßig verteilt sind.“

Politik muss zusätzliche Steuermittel für die Pflege bereitstellen

Eine Forderung, die Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK-Gesundheit, in seinem anschließenden Vortrag vorbehaltlos unterstützte. So befände sich die Pflege in Deutschland knapp 30 Jahre nach Einführung der Sozialen Pflegeversicherung an einem ausgesprochen kritischen Punkt: „Die Grundidee war und ist auch heute noch gut. Allerdings hat sich in der Zwischenzeit leider auch einiges zum Schlechten entwickelt.“ So würden laut einer im Auftrag der DAK-Gesundheit entstandenen Studie des Bremer Gesundheitsökonomen Prof. Dr. Heinz Rothgang mittlerweile mehr als ein Drittel der Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner ergänzende Sozialhilfen in Anspruch nehmen müssen. Für Andreas Storm angesichts der Lebensleistung vieler der Betroffenen ein untragbarer Zustand und Anlass, einen eigenen Reformvorschlag vorzulegen, demzufolge die Bundesregierung als neue pflegepolitische Zielsetzung die Sozialhilfequote in Pflegeheimen auf unter 30 Prozent begrenzen soll. Die für diesen Schritt notwendigen zusätzlichen Gelder müssten aus Steuermitteln finanziert werden. Ein Vorhaben, dass allerdings in Anbetracht fehlender politischer Initiativen in den zurückliegenden Haushaltsdebatten zunächst in weite Ferne gerückt scheint. „Wenn selbst Claudia Moll als Pflegebeauftragte der Bundesregierung erst vor wenigen Tagen die Funktionalität unseres Pflegesystem ohne die Freigabe zusätzlicher Steuermittel in Frage stellt, zeigt dies doch, wie kritisch die Situation mittlerweile ist.“

Leidtragende dieser verfehlten Gesundheitspolitik seien vor allem die pflegenden Angehörigen, die mittlerweile seit sechs Jahren auf eine Erhöhung der Vergütungssätze warten – trotz der gesetzlich vorgeschriebenen und alle drei Jahre auszuführenden Prüfung der Notwendigkeit. Die kürzlich in Aussicht gestellte Erhöhung um fünf Prozent zum 1. Januar 2024 sei laut Storm deutlich zu wenig: „Damit Menschen gar nicht erst ins Pflegeheim kommen, müssen wir die Pflege in den eigenen vier Wänden stärker fördern. Das Pflegegeld sollte noch in diesem Jahr um mindestens zehn Prozent erhöht werden. Darüber hinaus sollte jährlich eine Anpassung der Leistungen an die allgemeine Kostenentwicklung erfolgen.“ Unabhängig davon ist es für ihn höchste Zeit für eine Grundsatzdebatte: „Auch wenn natürlich auch anderen Themen in diesen unruhigen Zeiten unsere Aufmerksamkeit und Finanzmittel verdienen, müssen wir uns fragen: Was und wie viel ist uns die Pflege in unserem Land wert? Ohne weitere finanzielle Mittel werden wir auf kurz oder lang nicht auskommen.“

Es geht nicht nur um die Frage des Geldes, auch die Weiterentwicklung der lokalen Strukturen ist gefordert

Pflegende Angehörige brauchen aber nicht nur mehr Finanzmittel. Es sind auch lokale Strukturänderungen vor Ort gefordert, dies machte die anschließende Podiumsdiskussion deutlich, zu der Uwe Borchers neben den beiden DAK-Vertretern Pastorin Dr. Johanna Will-Armstrong, Mitglied des Vorstands der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, und Ingo Nürnberger, Erster Beigeordneter und Dezernent für Soziales und Integration der Stadt Bielefeld, auf die Bühne bat. Gerade beim Thema Information und Kommunikation sieht Johanna Will-Armstrong noch einigen Nachholbedarf: „Sowohl bei den Pflegebedürftigen als auch bei denPflegenden wissen fast 70 Prozent nicht über ihre Ansprüche und Rechte Bescheid. Hier müssen wir in ihrem Interesse dringend nachbessern.“ Von einer Implementierung weiterer und neuer Strukturen, wie sie postwendend von Andreas Storm vorgeschlagen wurde, rät sie allerdings ab: „Das System ist bereits so komplex, dass selbst ich als Insiderin kaum noch durchblicke. Da geht es vielen Pflegebedürftigen und Pflegenden sicher genauso. Wir brauchen einfache und klare Strukturen, die es den Menschen leichter machen, ihre Ansprüche zu erkennen und geltend zu machen. Als systemrelevante Akteure stehen wir hier in einer Bringschuld, der wir nachkommen sollten.“ Darüber hinaus sieht Ingo Nürnberger beim Thema Geschwindigkeit derzeit ein Manko: „Wenn es um die Abwicklung von Vorgängen geht, sind wir einfach zu langsam. Da dauert es oft viel zu lange, bis eine Entscheidung getroffen und umgesetzt ist.“ Dennoch sieht er die Kommune beim Thema Pflege trotz vieler Herausforderungen gut aufgestellt: „Was wir in diesem Zusammenhang als Stadt leisten können, tun wir auch. Allerdings liegt unser Hauptaugenmerk eher im koordinativen Bereich. Wir haben leider nicht die passenden Werkzeuge und Instrumente, um komplexe Steuerungsaufgaben zu übernehmen.“

Praxisbeispiele zeigen: Pflege und Beruf lassen sich besser in Einklang bringen

Auch für die Region Bielefeld und die hier ansässigen Unternehmen gewinnt die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege als Standortfaktor immer mehr an Bedeutung. „Gerade für kleine Betriebe kann der kurzfristige Ausfall von Mitarbeitern, die von einem Tag auf den anderen einen Angehörigen pflegen müssen oder selbst zum Pflegefall geworden sind, gravierende Folgen haben. Darum ist es wichtig, schon präventiv Maßnahmen zu entwickeln, die im Ernstfall schnell greifen“, berichtete Jan Hendrik Schnecke, Leiter des Projekts work & care, das neue Unterstützungsformen für Unternehmen und pflegende Erwerbstätige in Ostwestfalen entwickelt. „Ob Schulungsmaßnahmen, Arbeitszeitmodelle oder die Bereitstellung von Expertise im Unternehmen, alle diese Mittel dienen dem Zweck, den Abfluss von Arbeitskraft und Wissen zu verhindern.“ Ein ähnliches Ziel verfolgt Eva Leschinski, Leiterin des Kompetenzzentrums Frau und Beruf OWL, das zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und der beruflichen Chancen von Frauen in OWL gegründet wurde. „Wir wollen die Potenziale der weiblichen Arbeitskräfte bewahren, indem wir auf die Rahmenbedingungen im Unternehmen einwirken.“ Ziel sei es, über Veranstaltungen und Infomaterialien einen offeneren Umgang mit dem Thema Pflege und Beruf herzustellen. Noch aber sei der Bedarf groß, auch weil die dafür notwendige Vertrauens- und Gesprächskultur „erst noch wachsen müsse“. 

Noch scheuen viele Unternehmen die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema. Für Oliver Stenzel, Dialogforum Demenz & Associate Director External Engagement/Corporate Affairs von der Lilly Deutschland GmbH, ist die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege dagegen schon lange ein zentraler Bestandteil der Unternehmensphilosophie: „65 Prozent der Belegschaft sind weiblich, 75 Prozent davon über 40 Jahre alt. Da müssen wir uns mit dem Thema auseinandersetzen.“ Schon vor Jahren entschloss sich das Unternehmen mit Sitz in Bad Homburg daher, eine eigene Pflegeberatung aufzubauen, die mittlerweile ausgegliedert ist. Obwohl der dafür gewählte Dienstleister mittlerweile noch zahlreiche weitere Services anbietet, drehen sich über 50 Prozent der Anfragen nach wie vor um das Thema Pflege. Inzwischen hat das Unternehmen sogar ein eigenes Projekt aufgesetzt, das sich mit Anfängen einer Demenzerkrankung im beruflichen Umfeld beschäftigt. „Wenn Arbeitnehmer noch während ihrer Erwerbstätigkeit erste Auffälligkeiten zeigen, die in Richtung Demenz gehen, können wir das frühzeitig erkennen und präventiv handeln. Damit wird der spätere Übergang in die Pflege für den Betroffenen später leichter.“

Wertvolle Hilfen aus der Praxis 

Laut einer aktuellen Forsa-Umfrage sind 96 Prozent der Bundesbürger der Meinung, dass pflegende Angehörige gestärkt werden müssen. Dabei sind es oft die praktischen und lebensnahen Hilfen, die fehlen, weiß Bianca Michler, Fachkrankenschwester, Pflegeberaterin und Palliativ-Care-Fachkraft am Evangelischen Klinikum Bethel, Bielefeld und selbst Pflegende Angehörige. „Natürlich wollen wir im Alter alle möglichst zu Hause bleiben und hier gepflegt werden. Aber nicht immer ist dies möglich bzw. sind dafür entsprechende Veränderungen im eigenen Haushalt nötig.“ Gerade beim Übergang vom Krankenhaus ins häusliche Umfeld gelte es daher, Pflegebedürftige und Pflegende Angehörige zu informieren und zu beraten, „damit nicht am Ende schon nach wenigen Tagen die Häusliche Pflege abgebrochen werden muss.“ Bis zu sechs Wochen nach der Entlassung begleitet Bianca Michler die Betroffenen, schaut sich die Situation direkt vor Ort an und ergreift in Absprache mit den Betroffenen die notwendigen Maßnahmen, um ein ideales Pflegesetting aufzubauen. Dazu gehören auch Pflegetrainings und -kurse, die wertvolle Hilfen für den Pflegealltag an die Hand geben. „Der gute Wille ist immer schon da, aber manchmal fehlt einfach das praktische Wissen, zum Beispiel beim Baden oder dem Zubettgehen. Da reicht manchmal schon ein einfacher Handgriff, um den Pflegealltag für beide Seiten deutlich zu erleichtern“, weiß Bianca Michler aus eigener Erfahrung.

Wichtige Hinweise, die von den Teilnehmenden der Veranstaltung dankbar angenommen wurden, an deren Schluss Uwe Borchers ein durchweg positives Fazit zog: „Das Dialog-Forum 'Pflegende Angehörige' hat gezeigt, wie wichtig Austausch und Dialog zu diesem Thema sind. Auch mit work & care können wir Pflegende Angehörige konstruktiv unterstützen. Im Netzwerk werden wir mit den heutigen Ergebnissen weitere wichtige Schritte gehen."

Text: ZIG OWL, Christian Horn